Die Taxi-Fahrt, die ich niemals vergessen werde
Diese Geschichte wurde 1999 vom Autor Kent Nerburn verfasst und ist inzwischen ziemlich gut im Internet herumgekommen. Der ein oder andere wird sie sicher schon gelesen haben, aber ich möchte die Geschichte hier noch einmal möglichst originalgetreu übersetzt zur Verfügung stellen, weil sie so ein tolles Beispiel dafür ist, wie übereilt man Situationen für gewöhnlich einschätzt. Wie schnell man im Alltag an den wirklich wichtigen Dingen vorbeirennt. Wie einfach man Mitmenschen glücklich machen kann und wie positiv sich genau dieses Geben auf das eigene Gefühlsleben auswirkt.
Das ist die Geschichte von Kent Nerburn, lt. eigenen Angaben als Taxifahrer Mitte der 80er in Minneapolis, Minnesota erlebt. Das Original findest du hier.
Früher verdiente ich mir eine Zeit lang als Taxifahrer meinen Lebensunterhalt. Es war ein Cowboy-Leben, ein Spieler-Leben. Ein Leben für jemanden, der keinen Boss wollte, der immer in Bewegung sein wollte und den Kick suchte, dass ihn mit jedem Fahrgast etwas Neues erwartet.
Als ich den Job angenommen hatte, wusste ich allerdings nicht, dass mein Taxi zum rollenden Beichtstuhl werden würde. Menschen würden einsteigen, in absoluter Anonymität hinter mir sitzen und mir von ihrem Leben erzählen.
Die Fahrgäste und ich waren wie Fremde in einem Zug. Ich fuhr durch die Nacht und erfuhr Dinge, die bei Tageslicht niemals an selbiges gekommen wären. Ich traf Menschen, deren Leben mich beeindruckte oder mich mein eigenes schätzen ließen, die mich zum Lachen oder Weinen brachten. Aber keines dieser Leben berührte mich mehr, als das einer Frau, die ich zu später Stunde in einer warmen August-Nacht mitnahm.
Ich bekam einen Anruf aus einem kleinen Backstein-Mehrfamilienhaus in einem ruhigen Teil der Stadt. Ich vermutete, dass ich ein paar Partygänger abholen sollte, jemanden, der sich mit seinem Partner gestritten hatte oder der zur Frühschicht in irgendeine Firma ins Gewerbegebiet musste.
Als ich bei der Adresse ankam, war das Haus dunkel, bis auf ein einzelnes Licht in einem Flur im Erdgeschoss. Unter diesen Umständen würden viele Fahrer nur ein-, zweimal Hupen, eine knappe Minute warten und dann wieder abfahren. Für einen Taxifahrer kann es gefährlich sein, nachts um 2:30 Uhr zu einem dunklen Gebäude zu laufen.
Aber ich hatte bereits zu viele Menschen kennengelernt, die auf ein Taxi als einzige Transportmöglichkeit angewiesen waren. So lange ich nicht wirklich ein schlechtes Gefühl hatte, ging ich immer zur Tür, um meinen Fahrgast abzuholen. Es könnte sein, dachte ich mir, dass jemand meine Unterstützung benötigt. Würde ich nicht wollen, dass ein Fahrer das auch für meine Mutter oder meinen Vater macht, wenn sie ein Taxi gerufen hätten?
Also ging ich zur Tür und klopfte.
»Eine Minute noch« antwortete eine zerbrechliche, alte Stimme. Ich konnte hören, dass etwas über den Boden gezogen wurde. Nach einer langen Pause öffnete sich die Tür und eine kleine Dame Mitte 80 stand vor mir. Sie trug ein Blumenkleid und einen Pillbox-Hut mit angestecktem Schleier, wie man es aus einem Kostüm- oder Second-Hand-Laden kennt. Oder aus einem Film aus den 40ern. An ihrer Seite hatte sie einen kleinen Nylonkoffer, von dem das Geräusch kam, als sie ihn vorhin gezogen hatte.
Die Wohnung sah aus, wie wenn schon seit Jahren niemand mehr darin gewohnt hätte. Alle Möbel waren mit Tüchern abgedeckt, es gab keine Uhren an der Wand und weder Schnickschnack noch Deko auf den Ablagen. Nur in der Ecke stand ein Pappkarton voll mit Bildern und Glasgeschirr.
»Würden Sie meine Tasche zum Auto tragen?« fragte sie. »Ich wäre noch gerne einen Moment für mich allein. Und wenn Sie dann bitte zurückkommen könnten, um mir zu helfen? Ich bin etwas schwach.«
Ich trug den Koffer zum Auto und kam wieder zurück um der alten Dame zu helfen. Sie nahm meinen Arm und wir gingen langsam zur Straße, während sie sich bei mir bedankte.
»Keine Ursache« sagte ich. »Ich versuche nur, meine Fahrgäste so zu behandeln, wie ich es mir für meine Mutter wünschen würde.« – »Oh, Sie sind so ein guter Junge« sagte sie. Ihr Lob und ihre Dankbarkeit machten mich geradezu verlegen.
Als wir im Taxi saßen, gab sie mir eine Adresse und fragte mich »Könnten Sie bitte durch die Innenstadt fahren?« – »Das ist nicht der direkteste Weg« antwortete ich. »Oh, das macht nichts, ich bin nicht in Eile. Ich bin auf dem Weg in ein Hospiz.«
Ich sah in den Rückspiegel. Mit Tränen in den Augen sagte sie »Von meiner Familie lebt niemand mehr. Mein Arzt meinte, ich soll dort hin gehen. Er sagt, mir bleibt nicht mehr viel Zeit.«
Ich griff leise Richtung Taxameter und schaltete es aus. »Welche Strecke kann ich für Sie nehmen?« fragte ich.
Die folgenden zwei Stunden fuhren wir durch die Stadt. Sie zeigte mir das Gebäude, in dem sie einst als Fahrstuhlführerin gearbeitet hatte. Wir fuhren durch ihre frühere Nachbarschaft, in der sie mit ihrem Mann gewohnt hatte, als sie frisch verheiratet waren. An einem Möbelhaus bat sie mich anzuhalten. Es war früher ein Tanzlokal, in das sie als Mädchen immer zum Tanzen ging. So fuhren wir weiter und sie bat mich immer mal wieder, langsam zu machen an einem bestimmten Gebäude oder an einer Straßenecke und dann starrte sie schweigend in die Dunkelheit hinaus.
Als sich die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont verteilten, sagte sie plötzlich »Ich bin müde. Lassen Sie uns jetzt gehen.«
Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, fuhren wir zu der Adresse, die sie mir gegeben hatte. Es war ein niedriges Gebäude, wie eine kleine Kurklinik, mit einem Säulenvorbau über dem Zufahrtsweg am Eingang. Als wir dort anhielten, kamen uns sofort zwei Pfleger entgegen, die sehr besorgt schienen. Ohne auf mich zu warten, öffneten sie die Fahrgasttür und halfen der alten Dame beim Aussteigen. Sie mussten sie wohl erwartet haben. Vielleicht hatte sie hier angerufen, bevor wir losfuhren.
Ich öffnete den Kofferraum und brachte den kleinen Koffer zur Eingangstür. Die Frau saß bereits in einem Rollstuhl und griff nach ihrem Portemonnaie. »Wie viel schulde ich Ihnen?« – »Nichts« antwortete ich. »Aber Sie müssen doch auch von etwas leben.« – » Es gibt auch noch andere Fahrgäste« erwiderte ich.
Fast ohne darüber nachzudenken beugte ich mich zu ihr hinunter und umarmte sie. Sie drückte mich an sich und sagte: »Sie haben einer alten Frau einen kleinen Moment der Freude geschenkt. Vielen Dank.«
Mehr war nicht zu sagen. Ich drückte noch einmal ihre Hand und ging dann in das dämmernde Morgenlicht hinaus. Auf dem Weg zum Auto konnte ich die Hospiz-Tür ins Schloss fallen hören. Es klang, wie wenn sie sich hinter der alte Dame für immer geschlossen hätte.
In dieser Schicht nahm ich keine weiteren Fahrgäste mehr auf. Ganz in Gedanken fuhr ich ziellos durch die Gegend. Für den Rest des Tages war mir nicht nach Reden. Was wäre gewesen, wenn die alte Dame an einen unfreundlicheren Taxifahrer geraten wäre? Oder an einen, der seine Schicht beenden wollte? Was wäre gewesen, wenn ich nicht an das Haus gelaufen wäre, sondern nach dem Hupen einfach wieder weggefahren wäre? Was, wenn ich zu faul zum Reden gewesen wäre und sich dadurch unser Gespräch nicht ergeben hätte? Wie viele solcher Momente hatte ich nicht ergriffen und bereits verpasst?
Wir sind so darauf konditioniert zu denken, dass sich unser Leben um die ganz großen Momente dreht. Aber große Momente sind oft nicht gleich als solche zu erkennen und kommen unerwartet. Als die alte Dame mich umarmte und sagte, dass ich ihr einen Glücksmoment geschenkt habe, hätte ich glauben können, dass ich nur aus dem einen Grund auf dieser Erde war: um ihr diese letzte Fahrt zu schenken.
Ich glaube nicht, dass ich jemals in meinem Leben etwas gemacht hatte, das so wichtig war.